Vom Aufwachsen im Trümmerdeutschland über den Berserker Klaus Kinski bis zu diversen Nahtoderfahrungen: Der deutsche Regisseur hat seine Memoiren geschrieben und staunt – und man staunt mit.
Andreas Scheiner
Das Schiff ist führerlos. So verlangt es die Szene. In den berüchtigten Stromschnellen des Pongo de Mainique, einer spektakulären Schlucht inmitten des Río Urubamba in Peru, prallt es links und rechts gegen die steilen Klippen. An Deck fliegt erst die Optik der Kamera davon, dann fliegt der Kameramann Thomas Mauch hinterher. Und schliesslich schlägt dem Mann die Kamera mit voller Wucht auf die Hand. Zwischen den Fingern bis in die Handwurzel hinein ist sie gespalten.
Ein indianischer Arzthelfer sei ausserordentlich geschickt gewesen, schreibt Werner Herzog: Er flickte die Hand zusammen. Allerdings ohne Betäubungsmittel, denn dieses hat man längst aufgebraucht. Die Schmerzen sind für Thomas Mauch kaum auszuhalten. Herzog hält den bemitleidenswerten Kollegen im Arm, «aber das half nicht viel». Schliesslich ruft der Regisseur «eines der Fräuleins», eine Prostituierte aus der Gegend, die das Gesicht des Kameramanns «zwischen ihre Brüste drückte und ihm gut zuredete». Liebevoll, souverän und grossartig habe sie das getan, hält Herzog fest.
Der Regisseur wird nächstens achtzig Jahre alt. In seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen erzählt er von dem Vorfall, der zu den harmloseren von «Fitzcarraldo» gehört. Bei dem Dreh zu diesem Film bricht jedes erdenkliche Unglück über die Filmcrew herein, im Urwald erlebt man unsäglichen Horror. Herzog erwähnt einen Waldarbeiter, der von der giftigsten aller Giftschlangen gebissen wird. Ihm bleiben sechzig Sekunden. Mit einer Kettensäge sägt er sich den Fuss ab und überlebt.
Auch drei Leute, die unterwegs zum Fischen von Amahuaca-Indianern überfallen werden, überleben. Einem bohrt sich ein Pfeil quer durch den Hals hindurch, die Spitze steckt in der Schulter. Die Frau neben ihm wird in den Bauch getroffen, das Geschoss zerbricht an der Innenseite des Beckens. Der besagte Arzthelfer operiert sie auf einem Küchentisch. Werner Herzog assistiert, «indem ich mit einer starken Taschenlampe die geöffnete Bauchhöhle der Frau ausleuchtete». Gleichzeitig fuchtelt der Filmemacher mit Insektenspray, um die von Blut angelockten Mosquitos fernzuhalten.
Kinski zerlegt das Klo
Weiter gibt es zwei Flugzeugabstürze. Dann die vielzitierte Schinderei, als in der berühmten Szene das Schiff über den Berg gewuchtet werden muss. Von den Eskapaden Klaus Kinskis nicht zu reden. Wobei über ihn natürlich geredet werden muss: Herzog kennt Kinski von klein auf. Im Trümmermünchen der Nachkriegszeit wohnt Werner, 13-jährig, mit der Mutter und den zwei Brüdern zusammen auf einem Zimmer in einer Pension. Eines Tages kommt er von der Schule nach Hause, hört schrille Schreie. Die Küchenhilfe verfolgt einen jungen Mann und schlägt mit dem Tablett auf ihn ein. Der Kerl hatte ihr unter den Rock gefasst. So lernt Werner Herzog den «Schurken» kennen, mit dem er später fünf Spielfilme drehen wird.
Schon als Mittzwanziger lehnt Kinski die Zivilisation ab, isst deswegen mit den Händen. Er schläft auf dem Dachboden der Pension im Laub, wenn der Pöstler kommt, raschelt er splitternackt durch das Laub zur Tür. Einmal schmeisst er mit dampfenden Kartoffeln nach der Hausherrin, das andere Mal zerlegt er in einem Tobsuchtsanfall das Badezimmer. Nachdem er Lavabo, Kloschüssel und Teile der Badewanne zertrümmert hat, erscheint er «mit verzücktem Gesicht».
Kinski kann gemäss Herzog so laut schreien, dass effektiv Weingläser zerspringen, und früh sorgt er für Skandale auf der Theaterbühne, er schleudert etwa einen Kandelaber mit brennenden Kerzen ins Publikum. Wenn Herzog über Kinski schreibt, nennt er ihn (eine Auswahl): «den Rasenden», «den brüllenden Wahnsinnigen», «den Wüterich», «einen Dämon».
Beim Film «Aguirre, der Zorn Gottes» ballert der Darsteller mit einer Winchester wild um sich, weil er sich so der Schlangen und Jaguare zu erwehren meint. Einmal feuert er auf die Bambushütte mit den Statisten. Dass einzig ein Statist eine Fingerkuppe verliert, ist ein Wunder. Schliesslich «Fitzcarraldo»: Ein Häuptling der Asháninka hält es nicht mehr aus und bietet Herzog an, Kinski zu töten. Herzog hatte selber schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt. Er lehnt dann aber «höflich» ab.
Tom Cruise und sein Ernährungsberater
Werner Herzog hat also einige Erinnerungen niedergeschrieben. «Jeder für sich und Gott gegen alle» heisst das Buch, auf 330 Seiten berichtet es vom Leben im fortwährenden Wahnsinn. Man liest es atemlos weg. Oder schlägt das Buch einfach irgendwo auf. Denn man landet garantiert an einer Stelle, die noch abenteuerlicher ist als die vorangegangene. Zum Beispiel bei einem Skiunfall 1979 in der Nähe von Avoriaz beim Mont Blanc: «Als ich wieder zu mir kam, sah ich Blut und Erbrochenes im Schnee und hörte jemanden leise seufzen. Dann begriff ich, dass ich derjenige war, der seufzte. Ich hatte Verletzungen an zwei Halswirbeln, und mein Schlüsselbein hatte sich vom Brustbein losgerissen.»
Oder man findet sich auf dem «schwierigsten aller Berge», dem Cerro Torre in Patagonien, wo Herzog 1991 «Schrei aus Stein» dreht: «Innerhalb von Sekunden waren wir in einem White-out, in dem man nicht viel weiter als bis zur ausgestreckten Hand sehen konnte, dabei ein Sturm von etwa zweihundert Kilometern in der Stunde bei einer Temperatur von zwanzig Grad unter null. (...) Es gelang uns, eine winzige Biwakhöhle anzulegen, nicht viel grösser als ein Weinfass.»
Auch bei Tom Cruise, neben dem Herzog in «Jack Reacher» (2014) gespielt hat, kann man aufschlagen: «Unter seiner riesigen Entourage hatte er einen Spezialisten für Ernährung, der ihm in genauem Takt alle zwei Stunde eine winzige, an Nährwerten exakt ausgewogene Mahlzeit reichte.» Oder in nebenbei eingestreuten zwei, drei Sätzen liest man, wie Herzog dem Schauspieler Joaquin Phoenix das Leben rettet. Der Hollywoodstar ist zufällig im Auto vor ihm verunglückt, Herzog zieht ihn aus dem Wagen, der auf dem Dach liegt und aus dem bedrohlich das Benzin tropft. «Zwischen prallen Airbags mit dem Kopf nach unten hängend, wollte er mir nicht sein Feuerzeug aushändigen, mit dem er versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.»
Gestreift wird nicht zuletzt die unglaubliche Geschichte des japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der im Urwald der philippinischen Insel Lubang im Südchinesischen Meer ausharrte und erst Mitte der siebziger Jahre vom Ende des Zweiten Weltkriegs erfuhr. Herzog hat Onoda getroffen und dessen Geschichte kürzlich zu der grandiosen Erzählung «Das Dämmern der Welt» verarbeitet, die man ebenso lesen muss.
Barfuss in Bayern
Kurz: Werner Herzog hat in seinem bisherigen Leben ganz eindeutig mehr gesehen und erlebt, als jeder andere Mensch in einem einzigen Leben gesehen und erlebt hat auf dieser Welt. Aber das Buch ist nicht nur ein Abenteuerband ohnegleichen. Es ist auch ein einnehmendes Autoporträt, beginnend im Bergerhof im schmalen Tal von Sachrang, «dem abgelegensten aller Orte in Bayern», wo Werner Herzog Kühe melken lernt, barfuss ist, «weil wir im Sommer keine Schuhe hatten», und mit dem Bruder am Rock der Mutter hängt und vor Hunger jammert.
Herzog kann Drama, er kann auch Dramaturgie. Noch vor diesen frühen Jahren steigt er in den Erinnerungen mit einer Szene an der Südküste Kretas ein: Im Halbdunkel einer Aussegnungshalle sieht der junge Mann, keine achtzehn Jahre alt, zum ersten Mal tote Menschen, zwei Männer. Es war Blutrache, gegenseitig hatten sie sich getötet. Bei Einbruch der Nacht fährt der Deutsche dann aufs Meer hinaus, er arbeitet auf einem Fischerboot, fischt Tintenfische.
«Über mir war der Dom des Weltalls, Sterne wie zum Greifen, alles schaukelte mich sanft in einer Wiege der Unendlichkeit. Und unter mir, von der Karpidlampe hell erleuchtet, war die Tiefe des Ozeans, als setzte sich die Kuppel des Firmaments mit ihm zu einer Sphäre zusammen.» In diesem magischen Moment ist sich der junge Werner Herzog «sicher, dass ich hier und jetzt alles wusste». Er findet sich «in einem unfassbaren Staunen» wieder.
Werner Herzog kam in seinem Leben aus dem Staunen nie heraus. Das macht ihn aus, und das ist die grosse phänomenologische Erkenntnis, die einem von dem Buch bleibt: Wer staunt, hat mehr vom Leben.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Verlag Carl Hanser, München 2022. 352S., Fr. 39.90.
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