Ohne ein Wort Deutsch kam Bijan Djir-Sarai ans Gymnasium. Jetzt wird er FDP-Generalsekretär. Ein Gespräch über Angst vor Abschiebung, Aufstiegschancen und Sozialpolitik
Interview: Ferdinand Otto und Lisa Caspari
Im Grunde könnte die Erwartungshaltung an Bijan Djir-Sarai (45) kaum größer sein: Diese Regierungsjahre dürfen für die FDP nicht so enden wie die letzten – 2013 flogen die Liberalen aus dem Bundestag. Dagegen soll der designierte Generalsekretär das Profil der Partei trotz Koalitionszwängen bewahren. Im Interview spricht er über seine Karriere, vom Kriegsflüchtling zum Spitzenpolitiker, wie er dafür den Rat mancher Lehrer ignorieren musste – und warum das liberale Aufstiegsversprechen erneuert werden muss.
ZEIT ONLINE: Herr Djir-Sarai, wir wollten den neuen Generalsekretär der FDP kennenlernen. Angesichts der Weltlage sollten wir aber zunächst mit dem Außenpolitikexperten der Liberalen, mit Ihnen, sprechen. Was macht Deutschland, wenn Russland die Grenze der Ukraine überschreitet?
Bijan Djir-Sarai: Ich hoffe sehr, dass es nicht dazu kommt. Es geht hier nicht nur um die Ukraine, es steht viel mehr auf dem Spiel. Wir müssten uns dann grundlegend der Frage stellen, wie die neue Sicherheitsarchitektur in Europa aussehen muss.
ZEIT ONLINE: Ist ein Stopp von Nord Stream 2 denkbar oder ein Ausschluss Russlands vom Zahlungssystem Swift?
Djir-Sarai: Alle Optionen müssen auf dem Tisch bleiben. Es ist gut, dass der Bundeskanzler das ebenfalls unterstrichen hat.
ZEIT ONLINE: Russland sagt, es fühle sich vom Westen bedroht.
Djir-Sarai: Das sind Ausreden. Hat Russland Angst vor der Ukraine, vor Polen, Estland oder Schweden? Unwahrscheinlich. Was Putin wirklich fürchtet, ist die Reaktion der russischen Bevölkerung, wenn vor der eigenen Haustür demokratische, wirtschaftlich erfolgreiche Staaten entstehen. Dann könnte es nämlich dazu kommen, dass sich die Menschen im eigenen Land ein Beispiel an den Nachbarn nehmen, aufstehen und Demokratie und Bürgerrechte einfordern. Das ist aus Sicht der russischen Regierung die eigentliche Bedrohung für das System.
ZEIT ONLINE: Und was heißt das für Europa?
Djir-Sarai: Wir waren lange naiv. Das gilt im Übrigen auch für die China-Politik. Im Westen hat lange die Vorstellung dominiert, dass Länder, die wirtschaftlich erfolgreich sind und die durch ihren Handel eng mit demokratischen Staaten verflochten sind, automatisch auch zu Demokratien werden. Diese Vorstellung wurde leider von der Realität widerlegt. Es ist höchste Zeit, dass wir uns besser mit unseren europäischen Partnern abstimmen und in außenpolitischen Fragen mit einer Stimme sprechen.
ZEIT ONLINE: Sie sind mit elf Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen, in ein Land, das sich bis heute damit schwertut, als Einwanderungsgesellschaft bezeichnet zu werden. Wie haben Sie das Ankommen erlebt?
Djir-Sarai: Mein Deutschlandbild war von Beginn an durchgehend positiv. Ich bin 1987 aus Teheran nach Grevenbroich zu meinem Onkel gekommen, in eine Kleinstadt. Ich hatte das Glück, dass ich von Menschen umgeben war, die es gut mit mir meinten. Die Nachbarskinder, die immer fragten: Kommt Bijan mit zum Fußballspielen? Oder die Lehrer, die sich nach dem Unterricht mit mir hingesetzt haben, um die Hausaufgaben durchzugehen. Ich kam in die Schule, ohne ein Wort Deutsch zu können. Und obwohl ich im Iran gut war in Mathe, verstand ich die Textaufgaben nicht. Das war enorm frustrierend für mich.
"Deutschland ist ein Einwanderungsland und wir sollten stolz darauf sein"
ZEIT ONLINE: Ihre Eltern hatten Sie damals wegen des Iran-Irak-Kriegs nach Deutschland geschickt. Hatten Sie Angst vor Abschiebung?
Djir-Sarai: Ja, diese Angst war immer da. Ich kann mich noch gut an den Brief vom Innenministerium in NRW erinnern: Der Krieg sei vorbei, ich müsse nun das Land verlassen. Meine Schulklasse hat zurückgeschrieben, dass ich bleiben solle. Die Antwort des damaligen Ministers habe ich heute noch: Er finde es toll, dass sich die Klasse so für ihren Mitschüler einsetze. Erst nach acht Jahren in Deutschland konnte ich dann den Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen. 1996 war es so weit. Das war ein unglaublich bewegender Tag für mich. Der Besuch beim Amt war jedoch recht formell: Eine Beamtin hat mir mit neutralem Gesichtsausdruck die Unterlagen ausgehändigt. Das war eine Sache von 15 Minuten. Keine festliche Stimmung, wie man sie in den USA oder auch in Kanada sehen kann.
ZEIT ONLINE: Viele von den Prozessen, die Sie persönlich erlebt haben, will die Ampel-Koalition reformieren: schneller zur Staatsbürgerschaft, Spurwechsel aus dem Asylrecht für die, die Arbeit haben, keine Abschiebung bei guter Integration. Die Union sagt, das sei ein "Pull-Faktor", ein Anreiz für Migranten, nach Deutschland zu kommen.
Djir-Sarai: Diese Analyse teile ich ausdrücklich nicht. Es ist der alte Versuch zu sagen, Deutschland sei kein Zuwanderungsland. Das stimmt nicht. Deutschland ist ein Einwanderungsland und wir sollten stolz darauf sein. Die Menschen, die zu uns kommen und unsere Werte teilen, sind eine Bereicherung für die Gesellschaft. Deshalb begrüße ich sehr, dass die Koalition die Migrationspolitik neu ausrichtet und auf der einen Seite dafür sorgen möchte, dass Menschen unbürokratisch zu uns kommen und hier ihr Glück suchen können. Auf der anderen Seite ist es ebenso wichtig, dass jene, die ihren Platz in unserer Gesellschaft nicht finden wollen, weil sie beispielsweise unsere Werte nicht teilen oder straffällig werden, in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.
ZEIT ONLINE: Sie haben eine Aufsteigerbiografie, wie man sie bei der FDP gern erzählt. Nur lahmt das liberale Aufstiegsversprechen insgesamt. Die Zahl derer, die in Deutschland den Sprung in die Mittel- oder gar Oberschicht schaffen, wird kleiner. Woran liegt das?
Djir-Sarai: Was Aufstiegshemmnisse für Menschen mit Migrationshintergrund bedeuten, habe ich auch erfahren müssen. Deshalb sind Vorbilder so wichtig für den sozialen Aufstieg. Für meine Generation war Cem Özdemir der Held, als er auf einmal Bundestagsabgeordneter wurde. Das war ein starkes Signal: Wir sind nicht automatisch Verlierer und Außenseiter, sondern können es in diesem Land bis ganz nach oben schaffen. Dieses Signal müssen wir auch weiterhin in die Gesellschaft senden, weshalb Diversität und Repräsentation so wichtig sind.